Mutter mit Kind am Bahnsteig der Karmali Trainstation in Old Goa

Wie Indien die Schönheit des Wartens lehrt

Karmali Trainstation. Ein Bahnhof mitten im Nirgendwo in Goa, Südindien. Sechs Uhr abends, wir warten. Warten auf den Zug zurück in die Provinzhauptstadt Madgaon. Wir sind hier bereits seit zwei Stunden und werden noch länger bleiben. Die Ungeduld hat uns hier her getrieben und nun werden wir in Gelassenheit gelehrt.

Mutter mit Kind am Bahnsteig der Karmali Trainstation in Old Goa

Rückblick: Um fünf Uhr morgens sind wir eifrig aufgestanden, um vom Strand bei Cancona rechtzeitig mit dem Zug nach Madgaon zu fahren. Unser Ziel ist die Tempelstadt Hampi. Eilig hatten wir am Vortag entschlossen doch am nächsten Morgen zu fahren. Der Zug dorthin soll um 7:45 Uhr von Madgaon abfahren. Nach mehrmaligem hin und her vom Infoschalter zum Ticketschalter und vielen Missverständnissen, erfahren wir, dass heute kein Zug fährt. Erst morgen früh, also in 24 Stunden.

Ein Alternativprogramm muss her. Old Goa, die damalige Kolonialhautstadt der Portugiesen soll mit ihren vielen christlichen Bauten sehenswert sein und ist nur 30 Minuten mit dem Zug entfernt. Noch schnell die großen Rucksäcke am Bahnhof abgegeben und schon sind wir auf dem Weg.

Nach einem Tag voller Kirchen, Klöster, Klosterruinen, Reliquien, massenhaft Touristenbussen und indischen Pilgern wollen wir den Zug um 17:20 Uhr zurück nach Madgaon nehmen. Wir erreichen den Bahnhof Karmali über eine Stunde vor Abfahrt und kaufen zwei Tickets. Der Zug ist mit einer Verspätung von etwa einer Stunde angekündigt.

Und so warten wir. Erst eine Stunde — langsam setzt die Dämmerung ein. Zwei Stunden — ein Chai Wallah kommt vorbei, wir kaufen uns süßen indischen Tee mit Milch. Drei Stunden — ohne Internetsurfen, E-Mails oder Facebook. Vier Stunden — ohne digitale Anzeigen, Lautsprecherdurchsagen oder andere Informationen. Einfach warten. Es gibt keinen anderen Zug, keinen Bus, keine andere Möglichkeit auf diesem Bahnhof mitten in der Landschaft.

Manchmal geht es darum die scheinbare Kontrolle aufgeben zu können. Einfach loslassen, dasitzen und genießen.

Wir warten und es ist gut so. Wann nehme ich mir schon daheim in Österreich die Zeit einfach nur zu warten? Immer habe ich „besseres“ zu tun, muss Mails checken, krampfhaft Alternativrouten suchen, durch die Gegend hetzen und bin doch nicht schneller daheim. Natürlich ist es anders auf Reisen zu warten als im Alltag. Doch manchmal geht es darum die scheinbare Kontrolle aufgeben zu können. Einfach loslassen, dasitzen und genießen.

Mit Ungeduld und Eifer sind wir vor dem Morgengrauen aufgestanden. Mit Gelassenheit und Ruhe sehen wir den Nachthimmel über uns. Plötzlich ertönt es: „Mandovi Express from Mumbai to Madgaon will shortly be arriving on platform number one.“ Wir denken nur: „Jetzt schon?“

Nachtrag: Auch beim Posten dieses Artikels durfte ich mich in der Kunst des Wartens üben. Heute reisen wir nach drei Tagen wieder aus Hampi ab. Always on ist in Indien nicht möglich und das ist auch gut so.


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  1. Ich habe deine Zeilen nur überflogen, aber der Satz „Was ich vorher in Filmen für kitschig und banal hielt wurde…

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